Schwerbehindertenrecht – Beschäftigter mit Behinderung: Neuer Arbeitsplatz vor Kündigung

Kann ein Arbeitnehmer wegen einer Behinderung seine Aufgaben nicht mehr erfüllen, darf der Arbeitgeber schon in der Probezeit nicht einfach kündigen. Er muss prüfen, ob er ihn auf einem anderen Arbeitsplatz beschäftigen kann, der seinen Fähigkeiten entspricht – sofern dies den Arbeitgeber nicht unverhältnismäßig belastet – so der Europäische Gerichtshof.

Darum geht es

Der dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegte Fall spielt in Belgien. HR Rail ist die einzige Arbeitgeberin der Bediensteten der belgischen Eisenbahn. Im November 2016 stellte sie einen Facharbeiter für die Wartung und Instandhaltung der Schienenwege ein. Er begann seine Probezeit bei der für den Betrieb der Infrastruktur der belgischen Eisenbahn zuständigen Gesellschaft (Infrabel). Im Dezember 2017 wurde bei diesem Bediensteten in der Probezeit ein Herzproblem diagnostiziert, das das Einsetzen eines Herzschrittmachers erforderlich machte. Dabei handelt es sich um ein Gerät, das sensibel auf elektromagnetische Felder reagiert, die u. a. in Gleisanlagen auftreten. Aus diesem Grund wurde bei ihm eine Behinderung anerkannt. Nach einer arbeitsmedizinischen Begutachtung  wurde der Bedienstete bis September 2018 innerhalb desselbeinfrabel) als Lagerist eingesetzt. Am 26. September 2018 informierte HR Rail den Bediensteten über seine Entlassung zum 30. September 2018. Ihm wurde mitgeteilt, dass für ihn als Bediensteten in der Probezeit keine Verwendung an einem anderen Arbeitsplatz vorgesehen sei. Der Bedienstete schlug den Rechtsweg ein. Zuletzt beantragte er beim Conseil d’État (Staatsrat, Belgien), seine Entlassung für nichtig zu erklären. Der belgische Staatsrat entspricht in seinen Funktionen in etwa dem Bundesverwaltungsgericht in Deutschland.

Vorlage an den Europäischen Gerichtshof

Der belgische Staatsrat sieht es als entscheidungserheblich an, ob der Arbeitnehmer wegen seiner Behinderung verlangen kann, dass ihm ein anderer Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt wird, und ob er anders behandelt werden darf als Bedienstete der Bahn, die ihre Probezeit schon durchlaufen haben. Maßgeblich für diese Fragen ist die auch für Belgien gültige EU-Richtlinie 2000/78/EG vom 27.11.2000 für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, kurz »Gleichbehandlungs-Rahmenrichtlinie«. Deren Artikel 5 verpflichtet die Arbeitgeber,  „angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung“ zu treffen. Das heißt, der Arbeitgeber muss die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten.

Das sagt das Gericht

In seinem Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass dieser Begriff impliziert, dass ein Arbeitnehmer, der aufgrund seiner Behinderung für ungeeignet erklärt wurde, die wesentlichen Funktionen seiner bisherigen Stelle zu erfüllen, auf einer anderen Stelle einzusetzen ist, für die er die notwendige Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit aufweist, sofern der Arbeitgeber durch diese Maßnahme nicht unverhältnismäßig belastet wird. Das soll ausdrücklich auch schon für Beschäftigte gelten, die nach ihrer Einstellung eine Probezeit absolvieren.

Die Richtlinie 2000/78, so der EuGH, soll einen allgemeinen Rahmen schaffen, der gewährleistet, dass jeder „in Beschäftigung und Beruf“ gleichbehandelt wird, indem sie dem Betroffenen einen wirksamen Schutz vor Diskriminierungen bietet, wozu auch die Behinderung zählt. Die Bestimmung sei weit genug gefasst, um auf den Fall eines Arbeitnehmers anwendbar zu sein, der nach der Einstellung durch seinen Arbeitgeber zu Ausbildungszwecken eine Probezeit absolviert. Also ist der HR Rail-Bedienstete nicht wegen seiner Probezeit vom Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78 ausgenommen. Der Arbeitgeber habe nach der Richtlinie also die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden ihn unverhältnismäßig belasten.

Wechsel auf vorhandene freie Stelle möglich

Artikel 5 der Richtlinie enthalte eine weite Definition des Begriffs „angemessene Vorkehrungen“. Nach Auffassung des Gerichtshofs kann es in diesem Rahmen auch eine geeignete Maßnahme darstellen, einen Arbeitnehmer, der wegen des Entstehens einer Behinderung für seinen Arbeitsplatz endgültig ungeeignet geworden ist, an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden.

Schutz vor Belastungen

Allerdings weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Richtlinie 2000/78 den Arbeitgeber nicht dazu verpflichten kann, Maßnahmen zu ergreifen, die ihn „unverhältnismäßig belasten“. Dafür sind nach dem EuGH der mit den Maßnahmen verbundene finanzielle Aufwand sowie die Größe, die finanziellen Ressourcen und der Gesamtumsatz der Organisation oder des Unternehmens und die Verfügbarkeit von öffentlichen Mitteln oder anderen Unterstützungsmöglichkeiten zu berücksichtigen.

Im Übrigen stellt der Gerichtshof fest, dass die Möglichkeit, eine Person mit Behinderung an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden, jedenfalls voraussetzt, dass es zumindest eine freie Stelle gibt, die der betreffende Arbeitnehmer einnehmen kann.

Hinweis für die Praxis

Ob eine Weiterbeschäftigung zu zumutbaren Bedingungen, wird die belgische Justiz nun im weiteren Verfahren prüfen müssen. Wenn der belgische Bahnbedienstete im letzten Teil seiner Probezeit als Lagerist arbeiten konnte, könnte sich darauf auch eine für HR Rail zumutbare Weiterbeschäftigungsmöglichkeit stützen lassen. Auch für den Kündigungsschutz schwerbehinderter Menschen in Deutschland könnte das Urteil aus Brüssel einige Verbesserungen bedeuten, wenn die deutschen Arbeitsgerichte es umsetzen. Denn der besondere Schutz schwerbehinderter Menschen greift wie das KSchG auch erst, wenn ein Arbeitsverhältnis mindestens sechs Monate dauert, also nach der üblichen sechsmonatigen Probezeit. Auch die Rechtsauffassung des BAG, wonach in der Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG kein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchzuführen ist, könnte unhaltbar werden.

© bund-verlag.de (ck)

Quelle

EuGH (10.02.2022)
Aktenzeichen C-485/20 (HR Rail)
EuGH, Pressemitteilung Nr. 26/22 vom 10.2.2022