„Next Generation: Arbeitswelt anders gestalten – umdenken statt stillstehen“: Unter diesem Motto findet im Oktober die diesjährige BR-Jahrestagung statt. Keynote Speaker ist die Transformationsforscherin, Top-Coachin und Autorin Dr. Petra Bock. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, warum etablierte Denk- und Handlungsmuster nicht mehr zu unserer Wirklichkeit passen und inwiefern jeder Einzelne sich in die derzeitige große Veränderung einbringen muss, um sich entfalten zu können. Aber natürlich auch darüber, welche führende Rolle Betriebsrätinnen und gewerkschaftliche Weiterbildung in diesem Prozess übernehmen.
Nahezu allen ist das mächtige Wort „Transformation“ inzwischen zwar geläufig, aber viele wissen nicht, was im Detail damit verbunden ist. Wie erklären Sie dieses weite Feld in einfachen Worten?
Transformation ist ein tiefgreifender Wandel, der das Bestehende nicht einfach optimiert, sondern Branchen und Systeme fundamental verändert. Mit Veränderung sind wir zwar schon seit Jahrzehnten beschäftigt, aber die aktuelle, stark technisch, demografisch und ökologisch getriebene Transformation hat eine beispiellose Größenordnung: Der technische Fortschritt ist rasant – bei gleichzeitigen
politischen Turbulenzen, einer ausgewachsenen Klimakrise und gigantischen Markt- und Machtverschiebungen weltweit. Der Abschied von der fossilen Lebensweise hin zur Nachhaltigkeit erfordert völlig neue Systeme und eine veränderte menschliche Lebensweise. Zusammengenommen treffen Dinge aufeinander, die wir so zum letzten Mal nach dem letzten Klimawandel zu Beginn der sesshaften Zivilisation erlebt haben. Das ist – Luft anhalten! – um die 10.000 Jahre her. Wir sprechen also bei der Transformation über etwas wirklich Großes. Genau das macht etwas mit Arbeit, Menschen und Organisationen. Und das müssen wir uns anschauen.
Was sind die häufigsten Herausforderungen, denen Organisationen in Transformationsprozessen gegenüberstehen, und wie können sie diese meistern?
Es geht nicht mehr um einen einfachen Change-Prozess. Das unterschätzen viele. Die aktuelle Transformation verlangt, ganze Branchen und die gesamte Organisation in allen Facetten neu zu denken und vor allem die Organisationskultur zu verändern. Davor schrecken viele zurück. Einstein meinte mal, man könne Probleme nicht mit der gleichen Denkweise lösen, aus der sie entstanden sind. Transformation fordert also eine neue Denkweise und neue Lösungen in allen Bereichen einer Organisation. Zugleich unterschätzen viele die psychologischen Herausforderungen, die sich für alle Beteiligten ergeben. Sobald sie mit der Notwendigkeit echter und tiefgreifender
Veränderung konfrontiert sind, fühlen sich die meisten Menschen zunächst bedroht. Ich nenne das Phänomen, das ich immer öfter auch bei sehr gut ausgebildeten Wissensarbeiter*innen beobachte, „Transformationsangst“. Auf Bedrohung reagieren wir mit Stress, Angst, Aggression, Flucht oder Totstellen. Das gegenseitige Misstrauen wächst, der Druck steigt. Wir wollen am liebsten am Bewährten festhalten, das aber nicht mehr funktioniert, oder Veränderungen durchpeitschen und andere ganz schnell zum Funktionieren bringen.
Das sind die typischen alten Reaktionsmuster, die wir dringend durchbrechen müssen, weil sie in einer Transformation dieser Größenordnung unter derzeitigen Markt- und Lebensbedingungen nicht mehr funktionieren. Deshalb brauchen wir nach dem technischen einen ebenso tiefgreifenden menschlichen Fortschritt, einen „Inner Change“. Damit meine ich den Wechsel zu einer anderen, zu einer offenen, neugierigen, konsequent veränderungs- und lebensfreundlichen Denk- und Arbeitsweise. So können wir sicherstellen,
dass Menschen gern mitmachen und alle ihre Potenziale einbringen.
Wie wichtig ist die Einbeziehung aller Mitarbeiter*innen?
Das alles geht gar nicht, ohne die Mitarbeiter*innen einzubeziehen. Das merkt man längst. Wer die Entwicklung verschläft und in der Arbeits- und Unternehmenskultur bleibt, wie er ist, den bestraft das Leben – in Form von Generation Z oder einem explodierenden
Krankenstand, von Kündigungswellen und erheblichen Produktivitätsverlusten.
Was kann man tun, wenn Menschen nicht mitziehen wollen? Wie können Organisationen sicherstellen, dass das gelingt?
Es geht nicht ums Mitziehen. Wir müssen uns endgültig von Schuldzuweisungen verabschieden, die in solchen Formulierungen stecken. Heute geht es darum, sich gegenseitig konsequent als Erwachsene zu behandeln, sich ernst zu nehmen und sich so zu verhalten. Menschen haben das Recht und die Freiheit, dorthin zu gehen und dort zu arbeiten, wo sie sein möchten – auf eine Art, die sie als gut, fair und richtig erleben. Der Arbeitgebermarkt ist längst zu einem Arbeitnehmermarkt geworden. Das gilt für die Leitungsebene ebenso wie für alle anderen. Gleichzeitig bedeutet, sich gegenseitig ernst zu nehmen, auch, dass Lähmung und Stagnation auf keiner Seite mehr Platz haben. Heute müssen sich Organisationen verändern, um für unterschiedlichste Menschen attraktiv zu sein. Für sie ist es essenziell, sowohl wirksame als auch lebensfreundliche Arbeitskulturen aufzubauen und zugleich strategisch auf der Höhe der Zeit zu sein.
Auch auf dem Cover Ihres Buches „Der entstörte Mensch“ liest man die Aussage, dass wir nach dem technischen jetzt den menschlichen Fortschritt brauchen. Wie kann jede*r Einzelne in die mit der technischen Transformation verbundenen Herausforderungen hineinwachsen?
Mit dem technischen Fortschritt der vergangenen 100 Jahre hat sich fast alles verändert – nur unser Denken ist auf einer sehr tiefen Ebene gleich geblieben. Wir beuten immer noch uns und die Welt um uns herum aus, als ob es kein Morgen gäbe. Und das gibt es auch nicht mehr, wenn wir unser Denken nicht fundamental verändern. Wir haben den Eindruck, die Zeit sei aus den Fugen geraten, aber in Wirklichkeit ist unser Denken aus der Zeit gefallen. Das macht Transformationsprozesse so schwer, obwohl sie – neu und konsequent
lebensfreundlich betrachtet – eine riesige Chance sind. Für die Wirtschaft, die Gesellschaft, den Staat. Für uns alle und darüber hinaus auch für anderes Leben.
Wie wichtig ist es aus Ihrer Sicht, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber zusammenarbeiten, um eine erfolgreiche Transformation zu erreichen? Welche Herausforderungen gibt es dabei?
Gewerkschaften und Arbeitgeber haben sich noch nie so sehr gebraucht wie heute, um gute Arbeit zu schaffen, attraktive Arbeitsumgebungen zu kreieren und Unternehmen oder Institutionen durch eine gelungene und zügige Transformation auf allen Ebenen am Leben zu halten. Sie haben also eine Menge gemeinsamer Interessen, was zu einer Sternstunde konstruktiver und produktiver Zusammenarbeit führen könnte. Hoch individualisierte New Work sowie die Integration von Migrant*innen sind hier nur zwei Beispiele. Daneben existieren wichtige rechtliche und politische Themen, die man gemeinsam sehr viel schneller und besser voranbringen kann. Diese Chance müssen wir unbedingt nutzen!
Wie können Betriebsräte Transformationsprozesse unterstützen und was sollten sie beachten?
Betriebsräten kommt eine Schlüsselfunktion zu. Sie sind die geborenen Brückenbauer in einer Organisation, die in einem Transformationsprozess ist. Sie haben Herz und Ohr bei den Mitarbeiter* innen und sind zugleich ernsthafter und unverzichtbarer
Sparringspartner für das Management oder die Leitungsebene. Engagierte Betriebsrät*innen haben ein immenses Interesse daran, dass Transformationen positiv für alle Beteiligten erfolgen, dass Menschen gern und gut für die Organisation arbeiten, und können wertvolles Wissen und ihre ganze Persönlichkeit in eine menschenorientierte Transformationskultur einbringen. Durch die rasante Entwicklung der KI braucht es beispielsweise künftig sehr viel mehr Aufmerksamkeit für Menschen in klassischen Büro- und Wissensberufen. Ich bin gespannt, wann die gewerkschaftliche Arbeit in diesem Bereich stärkeren Einfluss gewinnt. Denn auch hier stehen wir vor einer Jahrhundert-Transformation, die im Interesse von Menschen begleitet werden sollte.
Um Prozesse jetzt und in Zukunft zu leben, benötigen Mitarbeiter* innen nicht nur neue Fachkompetenzen. Genauso wichtig sind soziale Faktoren, zum Beispiel Teamspirit, Offenheit und Flexibilität. Wie gelingt diese Erweiterung oder Anpassung des Mindset?
Da sich durch KI die Frage nach den Fachkompetenzen nicht nur in den Werkshallen, sondern auch in Wissensberufen und damit den Büros fundamental verändert, sind ein veränderungsfreundliches Mindset und die Fähigkeit, konstruktiv und flexibel mit Menschen und Technik zusammenzuarbeiten, absolut entscheidend. Ebenso wichtig ist, sehr gut und stressfrei mit anderen zu kooperieren, ohne sich
selbst dabei zu verlieren. Es wird zu einer völlig neuen Qualität von technischen und menschlichen Netzwerken kommen. Wie man sie pflegt und nutzt, gehört zu den Transformationskompetenzen unserer Zeit.
Wie kann (gewerkschaftliche) Weiterbildung inhaltlich auf alle Aspekte der Transformation reagieren? Wo kann und muss sie agieren und vielleicht sogar neue Trends setzen?
Neue Weiterbildung könnte künftig unter dem Schlüsselbegriff „Transformationskompetenzen“ laufen. Transformationskompetenz ist zunächst der kognitive und psychoemotionale Rahmen, den Menschen brauchen, um starke und schnelle Veränderungen, die zu ihren Lebzeiten nicht mehr aufhören werden, gut zu bewältigen und zugleich als Möglichkeit authentischer Selbstentwicklung und fairer wie produktiver gemeinsamer Weiterentwicklung zu nutzen. Die zentrale Frage ist: Wie schaffen wir in unseren Betrieben und Organisationen eine ebenso produktive wie lebensfreundliche Transformationskultur? Dazu gehören weitere spannende Aspekte: Wie schaffe ich für mich und meine Organisation selbst unter unsicheren Außenbedingungen psychologische Sicherheit? Wie sieht Führen in Zeiten fundamentalen Wandels aus? Ohne einen „Safe Space“ lernen Menschen nicht, sondern ziehen sich zurück.
Diversity und Inklusion werden noch wichtiger als bisher, weil wir jede*n Einzelne*n, seine*ihre Ideen und seinen*ihren Beitrag brauchen und mit Unterschieden konstruktiv umgehen müssen. Wächst der Veränderungsdruck, nimmt gerade diese Fähigkeit ab, alte Gewohnheiten und Machtverhältnisse bekommen wieder Aufwind – was niemandem etwas bringt und Fortschritte hemmt. Wir sehen das überall auf der Welt und ich beobachte es aktuell in zahlreichen Organisationen. Hier müssen Betriebsrät*innen gerade jetzt hellwach bleiben und wissen, wie man damit umgeht. Wichtig ist, die Zusammenarbeit mit allen relevanten Partnern zu intensivieren sowie eine Schlüsselrolle im Transformationsprozess einzunehmen und aktiv zu gestalten. Dazu braucht es strategische Skills und gezieltes Networking. Das sind nur einige wenige Ideen. Wie die Organisation darf sich auch die Weiterbildung neu erfinden. Niemals war es so spannend wie heute, Betriebsrätin oder Betriebsrat zu sein. Und niemals war gute, zeitgemäße Weiterbildung dafür so wichtig wie heute.
Herzlichen Dank für das inspirierende Gespräch und die unzähligen Denkanstöße!
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