Eine lange Check-in-Schlange bildete sich am 19. Juni 2023 vor der Hauptverwaltung der IGBCE, was Passant*innen zu der neugierigen Nachfrage veranlasste, was hier denn Interessantes los sei. Und los war tatsächlich eine Menge. Schließlich haben sich mehr als 150 neu oder wiedergewählte Schwerbehindertenvertreter*innen auf den Weg in die niedersächsische Landeshauptstadt gemacht, um sich zu Inklusion am Arbeitsmarkt und in den Betrieben auszutauschen. Diese Tatsache würdigte Aline Rennebeck, Gewerkschaftssekretärin in der Abteilung Sozialpolitik/Arbeits- und Gesundheitsschutz der IGBCE, in ihren Begrüßungsworten: „Die Kolleg*innen in den Bezirken und wir sehen euer Engagement, wir nehmen wahr, dass sich immer mehr SBV-Netzwerke bilden und wir gemeinsam eine starke Community im Bestreben um Inklusion sind. Auch diese Tagung soll wesentlich dazu beitragen, SBV-Netzwerke aufzubauen und zu stärken.“
„Mut zum inklusiven Arbeitsmarkt“: Das war das übergeordnete Motto der diesjährigen Tagung – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des sich immer mehr verstärkenden Fachkräftemangels. „Dieser Titel passt wie die Faust aufs Auge“, fand Birgit Biermann, designierte stellvertretende Vorsitzende der IGBCE, in ihrer Eröffnungsrede deutliche Worte. Der Bundesrat habe zwar vor Kurzem dem Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes zugestimmt, in dem erkennbar ist, dass wichtige Anliegen wie eine höhere Ausgleichsabgabe für inklusionsunwillige Unternehmen, die Aufhebung der Begrenzung des Lohnkostenzuschusses beim Budget für Arbeit sowie eine Genehmigungsfiktion für Anspruchsleistungen des Integrationsamtes aufgenommen wurden. Birgit Biermann: „Doch es ist nicht alles gut in diesem Gesetz. Behinderung darf keine Rolle spielen, denn wirklich jede*r hat Stärken. Ein Lösungsansatz für gelingende Inklusion ist
meines Erachtens die Förderung dieser Stärken. Denn jeder Mensch soll gleiche Chancen auf Beschäftigung und berufliche Entfaltung haben. Dafür tragen wir als Gesellschaft die Verantwortung.“
Inklusionspreis vereint Wertschätzung und Außenwirkung Tue Gutes: Dafür sind die SBVen im Zusammenspiel mit der IGBCE laut Birgit Biermann ein Paradebeispiel. Ein Ergebnis dessen ist beispielsweise die Unterzeichnung der „Sozialpartnervereinbarung Inklusion“ im Jahr 2020, die die Förderung von Inklusion in den IGBCE-Branchen bekräftigt. Und natürlich sind es die SBVen in den Betrieben, die sich unermüdlich für die Interessen Betroffener einsetzen. Tue Gutes und rede darüber: Daran mangele es ihrer Meinung nach noch häufig. Erster Ansatzpunkt für mehr Außenwirkung sei eine eigenständige SBV-Kampagne mit einem dafür entworfenen Logo. „Doch das reicht längst nicht, um euer Engagement noch stärker zu fördern und nach außen sichtbarer zu machen. Deshalb loben wir ab 2024 den Inklusionspreis der IGBCE aus, der jeweils zur SBV-Tagung verliehen wird – diese Auszeichnung ist unseres Erachtens dringend notwendig“, überraschte Birgit Biermann unter großem Beifall die Teilnehmer*innen. Bewerben können sich in Kürze dafür alle Schwerbehindertenvertrauenspersonen sowie SBVen einschließlich Gesamt- und Konzern-SBV im Organisationsbereich der IGBCE. Hauptkriterium für die Prämierung wird ein qualitativer Fortschritt in der betrieblichen Inklusion sein, der durch das Engagement der SBV erzielt wurde.
Inklusion ist immer wichtig – und Chefsache
Moderiert von Ninia LaGrande schloss sich daran eine etwa zweistündige Podiumsdiskussion an. Zu Inklusion am Arbeitsmarkt und im Betrieb tauschten sich auf der Bühne Harald Kill vom Inklusionsamt des Landschaftsverbands Rheinland, Kilian Roth aus der Gesamtschwerbehindertenvertretung der Evonik Industries AG, Jörg Bungart, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft für Unterstützte Beschäftigung, und Birgit Biermann mit Andrea Nahles, Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, die online zugeschaltet war, aus. Letztere betonte: „Inklusion ist kein Schönwetterthema, sondern immer wichtig!“ Man müsse sie zur Chefsache machen, generell ein Bewusstsein dafür schaffen und Energie aufwenden, um dieses Thema hochzuhalten. Dem stehe aktuell und bedingt durch die Pandemie allerdings eine Stagnation der Beschäftigung Schwerbehinderter gegenüber – trotz Fachkräftemangel und offener Stellen. Birgit Biermann bestätigt, dass Schwerbehinderte und Arbeitgeber oft nicht zueinanderfinden, weil bestimmte Mythen Ängste bei Arbeitgebern auslösen: Schwerbehinderte können nicht gekündigt und während einer Krankheit nicht entlassen werden und jedem steht eine Abfindung zu. Als Juristin weiß sie, dass diese Vorstellungen nicht stimmen. Ebenso ist ihr bewusst, dass auch bei Arbeitnehmer*innen mit physischen und/oder psychischen Beeinträchtigungen die Angst vor Ablehnung existiert, weshalb viele von ihnen sich für Jobs im öffentlichen Dienst entscheiden. „Angst ist noch nie ein guter Berater gewesen. Deshalb hilft nur reden, reden, reden“, betonte sie.
Verschiedene Lösungsansätze für erfolgreiche Inklusion
Kilian Roth versucht, diesen Einstellungs- und Beschäftigungsängsten entgegenzuwirken, indem er gezielt an Förderschulen und beim Blindenbund nach Nachwuchs sucht. Er ist davon überzeugt, dass durch Praktika sowohl die Jugendlichen als auch die Arbeitgeber erkennen, was mit einer Behinderung möglich ist und was nicht. „Inklusion ist ein kulturelles Thema und ein Barrierethema, weil es im Kopf Grenzen zieht. Damit ist auch klar: Es ist nach wie vor ein langer Weg. Das muss man sich immer wieder bewusst machen.“
Jörg Bungart fordert von den Unternehmen eine kreativere Einstellungspraxis: „Neue Wege müssen gegangen und geebnet werden, kein Rädchen darf an irgendeiner Stelle haken.“ Job Carving nennt er die Methode, Arbeitsplätze entsprechend den Fähigkeiten und Bedürfnissen einzelner Personen zu gestalten. Immer wieder stand zudem die Ausgleichsabgabe im Fokus der Diskussion – und damit auch der Unterschied zwischen Großkonzernen und kleinen und mittleren Unternehmen. Generell ist Birgit Biermann davon überzeugt, dass dieses Instrument nicht perfekt ist, aber darauf zurückgegriffen werden sollte, solange es keine bessere Alternative gibt. Noch besser wäre allerdings, wenn Arbeitgeber aus Sorge um ihren Ruf Schwerbehinderte einstellen würden: „Große Betriebe kriegt man nur über Reputation und nicht über Ausgleichsabgaben. Diese Trumpfkarte muss viel stärker und häufiger gespielt werden.“ Die Einnahmen aus den Ausgleichsabgaben wiederum fließen in die Förderprogramme der Inklusions- und Integrationsämter. Harald Kill vom Landschaftsverband Rheinland konnte allein im Jahr 2022 88 Millionen Euro für die Inklusion in Betrieben ausgeben. Er sieht unter anderem in der Vernetzung der Kostenträger einen sinnvollen Weg: „Kleine und mittlere Unternehmen sind sich oft nicht bewusst, welche und wie viele Fördermöglichkeiten ihnen zur Verfügung stehen.“
Arbeitsgruppen diskutieren Rechte, Pflichten, Ziele und Wünsche
Der zweite Veranstaltungstag war in zwei intensive Arbeitsgruppenphasen unterteilt, denn erstmals wurden keine Workshops angeboten, bei deren Vielfalt die Teilnehmer*innen der SBV-Jahrestagung die Qual der Wahl gehabt hätten. Vielmehr diskutierten alle zu zwei übergeordneten Themen. „Neu im Amt oder wiedergewählt – und jetzt“ beschäftigte sich mit Fragen wie: Was sind die wichtigsten Rechte und Pflichten einer SBV? Wie setzt man nach der Wahl realistische Ziele und wie lassen sie sich erreichen? Wie reagiert man auf Herausforderungen und bei Widerständen? Die zweite Arbeitsgruppenphase widmete sich der Beteiligung der SBV am Bewerbungsverfahren. Hier standen Aspekte wie Einflussmöglichkeiten und Grenzen der SBV sowie Stellschrauben zur Steigerung der Beschäftigungsquote schwerbehinderter Menschen im Vordergrund.
Die Ergebnisse der insgesamt vier Arbeitsgruppen wurden am folgenden Tag im Plenum vorgestellt. Kernaussagen zum ersten
Diskussionspunkt waren: Alles hat mit Wissen und Kompetenz zu tun, aber auch mit dem Aufbauen und Pflegen von Netzwerken – es sei wichtig, gesetzte Ziele regelmäßig auf den Prüfstand zu stellen und immer die Rechtssicherheit im Auge zu behalten, gleichzeitig aber hartnäckig und selbstbewusst am Ball zu bleiben. „Jeder profitiert davon, wenn wir es richtig machen“, lautete ein beispielhaftes Fazit. Geht es um Bewerbungsverfahren, steht eine Forderung ganz oben auf der To-do-Liste: Die SBVen sollten von Anfang an involviert sein – also bereits bei der Planung und den Stellenausschreibungen. Letztere wiederum sollten in einfacher, leicht verständlicher Sprache formuliert werden, sodass sie auch die Menschen an der Basis verstehen. Idealerweise ist der gesamte Bewerbungsprozess barrierefrei gestaltet, auch auf den dafür ausgewählten IT-Plattformen. Und last but not least: Der Abschluss einer Inklusionsvereinbarung wird als Grundvoraussetzung gewertet. Wie sagte einer der Teilnehmer*innen als Fazit? „Der Mensch steht nun mal im Zentrum des Bewerbungsprozesses“.
Die nächste SBV-Jahrestagung findet vom 11.-13.06.2024 in Hannover statt. Ihr könnt euch hier bereits anmelden.